Deutsche trinken gern. 2018 berauschten sie sich pro Kopf an etwa hundert Litern Bier, zwanzig Litern Wein und fünf Litern Spirituosen. Das Feiern schreibt sicher einmalige Geschichten, aber auch solche, die man lieber vergessen möchte. Erst kürzlich erschien Druk, ein Kinofilm über Alkoholkonsum mit Mads Mikkelsen. Er zelebriert die Freuden des Rauschs – nicht jedoch ohne mahnenden Unterton. Mit Blick auf die Literatur kommen einem Bukowski oder Hemingway in den Sinn. Hemingway etwa soll gesagt haben, dass er trank, „um andere Menschen interessanter zu machen“. Wie aber geht das Videospielmedium mit dem Thema Alkohol um? Spielt er eine nennenswerte Rolle? Wie wird er eingesetzt? Nach Recherche zeichnen sich grob drei Funktionen von Alkohol in Videospielen ab: als Teil einer Narrative, als Gimmick sowie als Bestandteil einer Gameplay-Mechanik. Ein Beitrag von Felicitas Pogan.
No Gods or Kings – only Beer
Als Gimmick taucht Alkohol in etlichen Spielen auf. Der Spieler kann ihn trinken und wird prompt von ihm beeinflusst – visuelle Effekte sollen an das echte Gefühl erinnern. In Bioshocks Art Deco-Dystopie zum Beispiel darf der Alkohol nicht fehlen. Schließlich ist es in der ultraliberalen Stadt Rapture ausdrücklich erwünscht, in einem beispiellosen Rausch Dinge zu erschaffen. Letztendlich geht die Utopie gerade an Drogenmissbrauch zu Grunde. Der Spieler stapft durch Raptures Überreste und kann sich die feuchtfröhlichen Feste von damals noch ausmalen. Bunte Banner schmücken die Wände, überall stehen Flaschen mit illustren Namen wie Moonbeam Absinthe oder Arcadia Merlot herum – unberührt und konserviert. Der Spieler kann ihn sofort trinken und wird sowohl belohnt als auch bestraft. Er schadet der Magieleiste aber füllt die Gesundheit auf. Werden mehrere Flaschen getrunken, verschwimmt die Sicht und der Raum dreht sich. Im späteren Verlauf des Spiels erhält man Superkräfte – raffinierte Spieler entflammen mit ihrer Feuerkraft die hochprozentigen Getränke, um sie als Molotov gegen Feinde zu schleudern.
Das spielerische Betrinken mit unerheblichen Folgen greifen einige weitere Titel auf. In Assassin’s Creed IV: Black Flag kann der Spieler sich in einer Taverne am Strand betrinken. Nach ein paar Pullen Rum dreht sich das Bild und der Protagonist wacht nach dem Rausch in einem kuscheligen Heuhaufen auf. Das schaltet sogar einen Erfolg frei – warum man dem Erfolge-Sammeln viel Gutes abgewinnen kann, lest ihr hier.
Beim Saufen im Open-World Klassiker Grand Theft Auto V schmunzeln deutsche Fans über die Biermarke namens Pißwasser. Was im echten Leben nur Idioten tun, kann man in GTA5 ohne realen Schaden testen: drink and drive. Dabei ist die Steuerung beeinträchtigt, der Spieler muss extrem gegenlenken, um nicht von der Fahrbahn abzukommen. Und betrinkt man sich über den Durst, wacht man auch schon mal in Unterhose mitten in der Wüste auf.
Wem das Pißwasser nicht zusagt, hat vielleicht mehr Spaß mit Siegbräu aus Dark Souls 3. Das seltene Item gibt es anfangs nur von einem freundlichen NPC namens Siegward nach gemeinsamem Sieg über einen Feuerdämonen. Prostend hält er das Getränk gen Himmel – man möchte es ihm gleichtun. Der zusammenschweißende Moment mit Siegward füllt unser Herz sowie die Gesundheitsleiste. Im späteren Verlauf wiederholt sich das gemeinsame Trinken mit Siegward – das alkoholische Gebräu charakterisiert ihn so als geselligen, sympathischen Gefährten. Vom selben Studio stammt das RPG-Adventure Sekiro. Ganz selten erhält man das Item Sake, eine Art japanischer Reiswein. Überreicht man es wichtigen NPCs, erzählen diese unter Alkoholeinfluss interessante Anekdoten ihrer Vergangenheit. Einen Sake erhält man etwa vom Mini-Boss namens Juzou the Drunkard, der sich sogar während des Boss-Kampfs unverschämterweise betrinkt.
Diese Beispiele zeigen, dass Alkohol als Gimmick ein beliebtes Mittel in Spielen ist, um das Gameplay aufzulockern. Um dem Spieler zu sagen: auch unsere fiktionalen Charaktere wissen, wie man eine gute Zeit hat. Die wissen, wie man Feste feiert. Die den Alkohol als Mittel nutzen, um in Gesellschaft aufzutauen und es auch mal übertreiben. Polygonen-Haufen wie Du und Ich eben. Daneben gibt es jedoch Spiele, in denen der Alkohol zur festen, wiederkehrenden Gameplay-Mechanik gehört.
Du bist, was du trinkst
Risen, Skyrim und Yakuza: Auch hier finden sich überall Flaschen mit Wein, Met und Bier. Sie heilen, füllen die Zauberkraft oder Ausdauer auf. Fallout 76 vertieft diesen Ansatz: ein Brausystem erlaubt es dem Spieler, alkoholische Getränke auf eigene Faust zu destillieren. Aus gesammelten Zutaten können Drinks hergestellt werden, die mit temporären Buffs belohnen. Fermentiert man das Getränk unter Zeitaufwand, werden die Effekte sogar noch potenter. Dazu kann der Hauptcharakter in den Fallout-Spielen buchstäblich Süchte entwickeln, wenn man Alkohol oder Chemikalien oft genug konsumiert. Sie bescheren dauerhafte Status-Downgrades, bis man sie heilt. Doch sogar das kann einen versteckten Nutzen haben: Es gibt seltene, legendäre Waffen, deren Schaden sich erhöht, je mehr Süchte man ansammelt. Einige Fallout-Spieler richten ihren Spielcharakter dediziert auf diese vorteilhaften Boni aus – und schufen den sogenannten Junkie-Build. Eine kreative und witzige Art, das Spiel zu bestreiten.
Selbstverständlich benötigt die Videospielwelt auch einen Bartending-Simulator. VA-11 HALL-A: Cyberpunk Bartending Masterpiece bedient diese Lücke. In der stylischen Visual Novel geht es um die Bartenderin Jill. Das Gameplay besteht tatsächlich ‚nur‘ aus dem Mixen von Drinks. Illustre Gäste erzählen von Gott und der Welt und welchen Drink sie sich wünschen. Die richtigen Zutaten müssen in der richtigen Menge in den großen Tumbler gelegt werden – ob geschüttelt oder gerührt hängt vom Gast ab. Je perfekter der Drink zubereitet wurde, desto mehr Geld gibt es am Ende – und desto tiefer lassen die Gäste in ihre Seele blicken. Ganze Geschichten von Stammgästen können bei schlechter Performance verpasst werden. Das simple aber spritzige Gameplay integriert sich so sinnvoll in den Erzählstil der Visual Novel.
Alkohol als Gameplay in all seiner Glorie findet sich auch im schnieken Choice-Adventure Afterparty. Das Spiel legt großen Wert auf Story, die sich durch die Entscheidungen des Spielers entfaltet. Die Handlung: Zwei beste Freunde finden sich in der Hölle wieder. Dieser Ort entpuppt sich als stylische Neonlandschaft voller Bars und feierlustigen Dämonen. Das Endziel: den Teufel bei einem Trinkspiel besiegen – nur dann dürfen die zwei zurück in die Welt der Lebenden. Der Spieler kann an den Bars verschiedene Cocktails kosten, die nach ihrem Konsum neue Dialog-Optionen mit anderen freischalten. Beispielsweise erlaubt es der Drink Prison Bully dem Spieler, Dämonen mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein einzuschüchtern. So entstehen neue Dialoge, die mehr über das Trinkspiel mit dem Teufel verraten. Mini-Games wie Bierpong oder Piñata lockern das Dialog-zentrierte Spiele zusätzlich auf.
Eine kleinere Rolle spielt Alkohol in Spielen wie The Last of Us als Teil des Crafting-Systems. In der Umwelt findet man Ressourcen wie Tücher und Alkohol, die zu Molotovs oder Gesundheitskits zusammengebaut werden können. In Wirtschaftssimulatoren wie Tropico kann der Alkohol für die Bevölkerung verboten werden, um sie zu steuern – deprimierend. Das gediegene Farming-RPG Stardew Valley erlaubt es dem Spieler, eigene Konsumgüter herzustellen: unter anderem auch Met und Wein. Diese können auch getrunken werden. Interessanter für den Spieler dürfte aber der saftige Ertrag nach Verkauf der Güter sein. Das Spiel berührt neben dem wirtschaftlichen auch einen narrativen Aspekt: Alkoholismus.
In Videogame Veritas
In Stardew Valley betreibt man Landwirtschaft, kämpft in der örtlichen Mine um Ressourcen und flirtet mit den Nachbarn – im besten Fall bis zur Heirat. Jeder Single birgt entzückende Geschichten, die sich nach und nach entfalten. Entscheidet man sich für den Eigenbrötler Shane, erzählt Stardew Valley eine Geschichte über Alkoholismus. Perspektivlosigkeit und Depression führten Shane zu regelmäßigem Alkoholmissbrauch – er wird oft bewusstlos in einem Meer aus Bierflaschen aufgefunden. Der Spieler hilft Shane in einfühlsamen Dialogen aus seinen Depressionen. Glücklicherweise sucht sich Shane daraufhin einen Job und verbessert sein Leben. Eine Heirat mit Shane stabilisiert ihn zusätzlich – sein Versprechen, nichts mehr zu trinken, hält er. Stardew Valley ist ein leichtherziges Spiel, scheut sich aber nicht, schwierige Themen anzusprechen. Shane in seinem Erbrochenen aufzufinden und ihm eine neue Perspektive zu schenken, berührt Spieler mit unaufgeregter Direktheit.
Das Horror-Adventure Lorelai setzt Alkoholmissbrauch ein, um die grauenvolle Persönlichkeit des Antagonisten zu zementieren: Lorelais Stiefvater ist arbeitsloser Kriegsveteran und alkoholsüchtig. Sein brutaler Missbrauch an Lorelai und ihrer Familie ist schwer mit anzusehen. Als wäre das nicht schlimm genug, greift er Lorelai sogar mit einer abgebrochenen Bierflasche an. Es bleibt fragwürdig, welche seiner Eigenschaften ihn letztendlich zu seinen Gräueltaten treiben. Der Alkohol fungiert in diesem Szenario jedoch als Mittel, um den ‚Endboss‘ des Spiels negativ zu charakterisieren.
Mit autobiographischem Anspruch findet sich in Papa & Yo ein ähnlicher Aspekt. Im Indie-Puzzler verarbeitet der Entwickler Vander Caballero die Alkoholsucht seines Vaters. Der Protagonist ist ein Junge, der sich in eine fantastische Rätselwelt träumt – doch dabei wiederholt einem Monster die Stirn bieten muss. Das Monster wird immer dann feindlich, wenn sein Vorrat an Giftfröschen aufgebraucht ist –eine Metapher für die alkoholisierten Wutausbrüche seines Vaters. Im Interview mit Vice erzählt Caballero von zahllosen Nachrichten, die ihn nach Veröffentlichung von Papa & Yo erreichten. Einige Spieler haben sich in der Geschichte wiedergefunden. Sein Spiel würde sowohl ‚Opfer‘ als auch ‚Täter‘ von Alkoholmissbrauch berühren. Videospiele hätten also das Potential, Traumata zu verarbeiten oder könnten zumindest einen Anreiz bieten, sich damit auseinander zu setzen. Ein schönes Beispiel dafür, wie erwachsen Videospiele mit schwierigen Themen umgehen können – trotz kindlichem Setting.
Disco Elysium, ein ausgeklügeltes Text-Rollenspiel, benutzt Alkohol für einen narrativen Trick: Der Protagonist wacht halbnackt in einem zerrütteten Apartment auf und erinnert sich an nichts. Der Alkoholrausch am Abend zuvor führte zum totalen Blackout – der Spieler muss mit der Spielwelt interagieren, um aufzuarbeiten, wo und wer er überhaupt ist. Stück für Stück lernt man im Dialog mit Stadtbewohnern mehr über seine Vergangenheit – die Identität eines emotional abgestumpften Polizisten, der an der Flasche hing. Die Amnesie bleibt permanent und ermöglicht so eine komplette Neuerfindung des Charakters. Die Art wie gespielt wird, formt unsere Charaktereigenschaften, wie die Umwelt auf uns reagiert und den Spielverlauf. Es ist möglich, den alten Pfad des trunkenen Cops wiederaufzunehmen – doch viel spannender ist es, seine Persönlichkeit völlig neu zu erschaffen. Diese Freiheit schenkt uns das Spiel durch die alkoholinduzierte Amnesie – Tabula Rasa. Disco Elysium erntet von Kritikern nicht zuletzt deswegen viele Lorbeeren, weil die Entscheidungsfreiheit so komplex und konsequent sei, dass es dem Namen Rollenspiel – im Gegensatz zu anderen RPGs – wirklich gerecht werde.
Im Wilden Westen der Red Dead Redemption Saga sind Schnaps und Whiskey nicht wegzudenken. Auch hier kann sich der Spieler volllaufen lassen, bis er kurzzeitig torkelt und stammelt. Nebencharaktere kommentieren die Trunkenheit dann gerne mit spitzen Bemerkungen. Alkohol ist zudem Teil von einigen Missionen. Eine davon hat es Fans besonders angetan. „Rockstar just made one of the most memorable missions in this game”, so der Top-Kommentar eines Nutzers online. Weil es Gangmitglied Lenny an den Nerven hat, soll Protagonist Arthur ihn mit Alkohol zurück auf den Boden holen. Damit beginnt eine zehnminütige Sequenz im Saloon, die richtig Spaß macht. Es ist eine spielbare, feuchtfröhliche Montage des Rauschs. Die Bar ist voller trunkener Rowdies, doch das Duo wischt mit ihnen den Boden. Störenfrieden kann man drohen, vermöbeln oder mit Witz den Wind aus den Segeln nehmen – man hat die Wahl. Lenny und Arthur hauen ordentlich auf den Putz. Hier mimt Red Dead Redemption das Freiheitsgefühl eines unbeschwerten Abends mit Freuden. Alkoholkonsum wird wertfrei und amüsant inszeniert. Der Spaß am Betrinken ist hier Weg und Ziel der Mission zugleich.
Sicherlich gibt es noch mehr Spiele, deren Geschichten von und mit Alkohol erzählen. Je länger diese Recherche andauerte, umso mehr Beispiele tauchten auf. Alle aufzunehmen würde den Rahmen sprengen. Sie zeigen jedoch: Die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten von Alkohol ist nicht unerheblich. Alkohol fungiert etwa als Mittel zur Unterhaltung, als narrativer Trick oder charakterisiert die Figuren – sowohl positiv als auch negativ. Entwickler gehen das Thema amüsant oder einfühlsam an und zeigen auch seine dunkle Seite. Überraschenderweise ist Alkohol in Videospielen wirklich allgegenwärtig – sowohl in AAA-Titeln sowie Indie-Spielen. Und er wird mittlerweile kreativ im Gameplay eingesetzt wie Afterparty und VA-11 HALL-A zeigen. Nachdem für diesen Text unzählige virtuelle Drinks verköstigt wurden, bleibt nur zu sagen, dass Alkohol in der Videospielwelt seinen festen Platz gefunden hat – und wie im echten Leben nicht mehr wegzudenken ist.
Kennt ihr noch mehr Beispiele, wie Videospiele Alkohol einsetzen? Habt ihr gute Geschichten unter virtuellem Alkoholeinfluss erlebt? Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen!